“Die Kommenden” waren jener Pseudo-Bohèmekreis

Die Kommenden” waren jener Pseudo-Bohèmekreis, der um 1900 im Berliner Nollendorfkasino zu nächtigen pflegte (denn “tagen” kann man nicht gut zu jenen Dauersitzungen sagen, die nachts um zehn begannen und bis in die Morgenstunden dauerten), und den der sehr zu Unrecht vergessene Dichter [[Ludwig Jacobowki]] leitete. Als er gerade am Tage, da die Premiere seines Stückes “Diyad, der Narr” stattfinden sollte – es war der 2.Dezember 1900 – als Zweiunddreißigjähriger starb, übernahm Rudolf Steiner den Vorsitz, der denn auch in einer 1901 erschienenen Anthologie einen sehr schönen Nachruf über Ludwig Jacobwski geschrieben hat.

Aber ich muß die Gesellschaft rasch zeigen, der er präsidierte, obgleich die meisten jener Dichter und Essayisten samt ihren Werken längst vergessen sind, eine rauhe Tatsache, die mich schon vor vielen Jahren veranlaßte, meine ironischen Gedanken über das problematische Wesen des Ruhms und Nachruhms an dieser gleichen Stelle niederzulegen. Welche magische Lockung besitzt diese irisierende Seifenblase, die so bald zerplatzt! Weiß denn nicht jeder halbwegs Vernünftige, dass jenes erhebende Gefühl, dass ihn beim Schaffen emporträgt und ihm die Illusion schenkt, für die Ewigkeit gesprochen zu haben, ein trügischer Wahn ist? Und doch erliegt ihm fast jeder Künstler! Jedenfalls war keiner unter den Kommenden, der nicht von der Überzeugung durchdrungen gewesen wäre, dass seine Werke noch im Jahre 3000 leben würden. Dreißig Jahre sind erst vergangen, und kein Mensch weiß mehr von ihnen. Ich selbst habe das meiste längst vergessen, und es fiele mir auch nicht im Träume ein, jemals wieder eines der Bücher aus jener Zeit noch einmal zur Hand zu nehmen. Was gehen mich die Schrullen und Qualen jener Leute von 1900 an? Wir haben unsere eigenen zeitgemäßen Sorgen, unsere eigenen Verrücktheiten, unsere eigenen Leiden von anno 1930, und es ist sicher, dass die sachlichen Bretter, die wir alle gegenwärtig vor dem Kopf haben, in zehn Jahren anderen Platz machen werden …

Zum Kreis der “Kommenden” gehörte Max Martersteig, der eben Maeterlinck für uns entdeckte, dessen “Aglavaine und Selisette” er – um die notwendige gespenstig-dämmerige Stimmung zu erzeugen – mit gedämpfter Stimme bei herabgeschraubtem Gaslicht der andächtigen Versammlung vorlas. Da traf man die Lyrikerin Dolorosa (wir nannten sie “die tolle Rosa”), die mit verzückten oder krampfhaft geschlossenen Augen und bleich wie Kalk ihre bluttriefenden masochistischen Gedichte vortrug, in denen stets die Sehnsucht nach Prügeln herrschte. Ich weiß nicht, wer sie ihr gab. Da war Else Lasker-Schüler im schwarzen Reform-Seidengewand, die stets mit den Perlen eines riesigen Rosenkranzes spielte; sie war immer um Peter Hille, der, aufgefordert etwas vorzulesen, einen wirren Haufen zerknüllter Pferdebahnbillets aus der Tasche zog, deren damals noch unbedruckte Rückseite er mit seinen ihm selbst unleserlichen Runen bedeckt hatte; kein noch so eifriges Studium half, Sinn und Ordnung in diese gekritzelten Blättchen zu bringen. Man begegnete Margarete Beutler (wohin bist du entschwunden, prachtvolles Weib?), die uns ihre wundervollen Gedichte hören ließ, die aus innerstem Erleben kamen; Papa Carl Rössler mit seinem ewigen Jungenlächeln; Peter Baum, dunkel bebartet, rank und schlank, Lyriker von starken Graden und Kapitalist von Vaters Gnaden; Anselm Ruest, der mit seinen feinen Werken über Shakespeare, Napoleon, Nietzsche u.a. weit weniger Glück hatte als heute Emil Ludwig; Leo Berg [e], der große Meister der Kritik und Polemik, mit dem mich bis zu seinem Tode eine langjährige innige Freundschaft verband; der Literaturkritiker und Jesusforscher Samuel Lublinski mit seinem rotblonden Bart, der scharfen Brille und der schweren Zunge; Maximilian Bern, Verfasser feiner Novellen und der «Zehnten Muse», der in Hunger und Elend, betrogen und ausgebeutet, gestorben ist; Paul Scheerbart [f], das «meschuggene Huhn» genannt, über den ich ganze Bände komischer Anekdoten erzählen könnte; der Spinozist Professor Jeiteles, der immer erst nachts um 11 Uhr und bis zum Morgengrauen zeitunglesend im Café saß; Konrad Gomoll, der stille, blonde Träumer, der seine weltfremden Gedichte und Romane schrieb; Kurt Geucke, Dichter von Gottes Gnaden, den Liliencron, Dehmel und andere Größen neidlos gefeiert hatten; der Literaturkritiker Hans Landsberg (der «Druckfehlerteufel» genannt), der seinerzeit durch seine Broschüre «Los von Hauptmann!» Aufsehen gemacht hatte, und noch viele andere Koryphäen der Kunst, Literatur und Musik; Verfasser nie erschienener Bücher, deren Inhalte wir alle schon auswendig kannten; Maler nie begonnener Gemälde; vagierende Schauspieler; berüchtigte Genies der Kunst, kleine, nie wieder rückzahlbare Anleihen aufzunehmen; himmelstürmende Jünglinge und Hojotoho-Mädchen, die von allen Sprachen der Welt die notwendigen Worte kannten, um einem ihre Liebe zu erklären und einen Pump anzulegen; Frauen, die nie zu wissen schienen, mit wem sie augenblicklich verheiratet waren; Dichter, die den Zufall als ihren Gott verehrten und seelig in dem Glauben waren, dass neue doppelsohlige Stiefel vom Himmel liefen; Apollo-Götzendiener, die mitternachts frühstückten und im Februar statt des Wintermantels den Pfandschein dafür bei sich trugen, dessen ausstrahlende Wärme relativ gering war, und viele andere, deren tägliches Problem die Magen- und Mietfrage war und denen, um reich zu sein, nichts anderes fehlte als das Geld. Knechte Plutos alle. Sie hätten ihr letztes Hemd versetzt, um reich zu sein.

Die Tätigkeit Rudolf Steiners beschränkte sich meist auf stummes Zuhören und auf Pumpen. Er pumpte Gott und die Welt an.

Jakob Elias Poritzky, in: