Morris Rosenfeld “der Dichter der Lieder des Ghetto”

Morris Rosenfeld “der Dichter der Lieder des Ghetto,” galt den wenigen, die ihn persönlich kannten, für tot und verschollen. Noch vor wenigen Wochen meldeten Hunderte von Blättern, der Sänger der Not und der Sehnsucht wäre vereinsamt und vom tiefstem Elend erdrückt im Newyorker Ghetto, einem der fürchterlichsten der Welt, gestorben. In den allerletzten Tagen jedoch ließ der tatsächlich in weltabgeschiedener Zurückgezogenheit und in einfachsten Verhältnissen lebende Dichter seine Stimme über den
Ozean vernehmen und es klang wie ein schmerzliches Bedauern, als ob man seiner jetzt erst, da man ihn tot glaubte gedenken wolle. Umsomehr wird es den selten begabten Lyriker erfreuen, wenn er hören wird, daß heute der Zauber seiner Lieder in immer höherem Grade weiteste Kreise zu umstricken beginnt, wenn ihm seine Freunde berichten werden, daß seine Lieder des Ghetto, von E. M. Lilien’s Meisterhand ge­schmückt, in einem stattlichen Prachtband herausge­geben, von Tausenden und Abertausenden dankerfüllt gelesen werden und dem Dichter, wenn auch spät, von unserem kunstverständigen Publikum der längst fällige Tribut gezollt wird. Morris Rosenfeld, so schildert ihn der feinsinnige Balladendichter Börries von Münchhausen, ist ein Jude, heimatlos, wie verwehtes Laub, geschlagen mit dem ganzen großen Fluch seiner Rasse; Rußland, Polen, England, Amerika sind die Stationen seines Leidensweges. Die dumpfigen Arbeitssäle der großen Fabriken, sind das Milieu, in dem sich sein Leben und seine Gesänge abspielen. Aber unter dem Drucke der Not wurde aus dem armen Ghetto-Jungen, der Zeitlebens bald als Schneidergeselle, bald durch andere schwere Fabrik­arbeit sein Leben fristete, ein Dichter. Nun ziehen seine Lieder ins Land gekleidet wie Fürstenkinder durch die Kunst eines unserer besten Zeichner, während ihr Schöpfer, wie von ihm erzählt wird, oft nicht das Geld hat zu einem Rock vom Althändler. Morris Rosenfeld Ghettolieder sind ein Buch, das jeder, sei er Christ, sei er Jude, sei er Muhamedaner, mit weihevoller Andacht in die Hand nehmen, keiner ohne tiefe Eindrücke aus der Hand legen wird. Der Verlag Seemann Nachfolger, Berlin, NW. 87, bei dem die neue illustrierte Ausgabe erschienen ist, hat außer der Prachtausgabe eine, ebenfalls mit den zahlreichen Lilien’schen Bildern und Zeichungen geschmückte Volksausgabe, ebenfalls in sehr aparter
Ausstattung zum Preise von M. 3.50 erscheine lassen, die wohl geeignet sein dürfte, dem Dichter noch Tausende von Lesern, wie er sie verdient, zuzu­führen.

Bukowinaer Volks-Zeitung (Czernowitz), 1. Jahrg., 12. September 1907, Nr. 157, S. 2-3. Online