Protestversammlung gegen die polnischen Progrome

Protestversammlung gegen die polnischen Progrome

Am 11. Dezember fand im Burgerratssaal eine Gedenkfeier für die Pogromopfer in Polen, Galizien und Lemberg statt, die einen außerordentlich denkwürdigen Verlauf nahm. Der Vorsitzende, Schriftsteller York-Steiner, erklärte in seiner Einleitung, daß eine Protestversammlung absichtlich unterlassen wurde, um den Anschein zu vermeiden, als ob man den neutralen Boden der Schweiz zu politischen Demonstrationen mißbrauchen wollte. Der erste Redner, Schriftsteller Bertold [sic!] Feiwel, betonte die bedauerliche Tatsache, daß diese Pogrome sich von den russischen, welche momentane Aufwallungen [?] wallungen von sonst gutmütigen Pöbelhausen bedeuteten, sich wesentlich unterscheiden, weil sie politischen Ursprung haben. In Ostgalizien können die Polen nur dann das Land behaupten, wenn sich die Juden zu ihnen gehörig erklären, gehen sie mit den Ukrainern oder bleiben sie auch nur neutral, dann bleibenn die Polen in der Minorität. Die Rede von Herrn Pfarrer Ryser, der darauf zu Wort kam, wurde von der Versammlung vielfach mit stürmischem Beifall unterbrochen. Er verurteilt aufs Schärfste diese Schlächtreien an wehrlosen Menschen als unchristlich und als unserer Zeit unwürdlg. Man wolle nach zweitausend Jahren die Juden verurteilen, weil einige ihrer Führer dafür gestlmmt hatten, den Heiland zum Kreuzestode zu verurteilen, aber man vergesse ganz, daß das jüdische Volk dem Christentum den Heiland geschenkt hat. Darauf betrat Herr Prof. Hadorn, Prediger am Münster, die Tribüne. Er erklärte, er spreche nur als Vertreter der Alma mater bernensis und besonders als Mitglied der protestantisch-theologischen Fakultät. Viele Protestanten lehnen die Greuel in Polen mit der Begründung ab, daß Katholiken und nicht die eigenen Konfessionsgenossen die Greuel verübt hätten. Er eklärte jedoch gerade in solchem Falle das ganze Christentum für solidarisch. Jeder einzelne Christ set verpflichtet, gegen diese Brutalitaten, die man im 20. Jahrhundert für unmöglich hielt, öffentlich aufzutreten. Der Vorsitzende, Herr York-Steiner, dankte den Rednern. Die Juden wollten es vermeiden, eine Protestversammlung abzuhalten, durch diese Reden aber sei der Abend in eine christliche Protestversammlung umgewandelt worden. Wenn hoffentlich in kurzer Zeit Palästina die jüdisch nationale Heimat werde, dann werde auf Zion, auf der geheiligten Stätte, eine Ehrenhalle gebaut werden und an erster Stelle werde der Name der schweizerischen Eidgenossenschaft und der reformierten Kirche prangtn. Zum Schlusse sprach Herr Joseph Messinger, Prediger der israelitischen Kultusgemeinde Berns. Er schloß mit einem hebräischen Segensspruch, der von der ganzen Versammlung stehend angehört wurde. Hierauf wurde eine Entschließung verlesen, in welcher christliche und jüdische Schweizerbürger und ihre Gäste es aufs tiefste bedauern, daß die Eingangspforte zur polnischen Freiheit durch unschuldig vergossenes Menschenblut entweiht sei. Der Schweiz wird der Dank dafür ausgesprochen, daß sie das Studium des Völkerbundgedankens angeregt habe, der allen Völkern und auch dem jüdischen die ganze Garantie für ihre Erhaltung bieten könne. Eine internationale Schutztruppe sollte im Osten eine Sicherheitspolizei bilden, ein internationales Komitee die Verantwortlichkeit feststellen und die Schadenersatzansprüche regeln. Die Versammlung war etwa zu zwei Fünfteln von christlichen Zuhörern besucht.

Berner Intelligenzblatt, 85. Jahrg., 14. Dezember 1918, Nr. 340, S. 2. Online