Psalm 98

Psalm 98

Als ich das neue Lied des Herrn,
Mein Hohelied von Zion sang,
Da flog durch manch ein Judenherz
Ein halbvergess’ner, süsser Klang;
Da wachten ernst und lieblich auf
Die alten, trauten Judenlieder,
Und die wir lange nicht gespielt,
Die Harfe Davids tönte wieder.

Ein sieghaft goldner Morgen kam
In Sonnenglut und Herrlichkeit
Und hat mit seinem Flainmenschwert
Die Finsternis der Nacht zerstreut.
Da brachen junge Ströme aus
Vom Felsenbett, darin sie schliefen,
Da schrie das Meer frohlockend auf
Aus seinen schwarzen Abgrundtiefen.

Aus tausend bitteren Schmerzen ward
Geboren uns der neue Geist,
Der mächtig durch die Lande weht
Und uns den Weg nach Zion weist.
Nun jubeln wir das Lied des Herrn
Beim Klang der Flöten und der Geigen,
Mit Cymbelton und Saitenspiel
Und anmutvollen Mädchenreigen.
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0 du! Es hat auch dich bewegt
Der Lieder heimatsüsser Klang,
Der bleibt in deinem Herzen jung
Wie Frühlingssturm dein Leben lang,
Und was uns auch das Leben bringt,
Wohin uns auch das Schicksal triebe:
Uns bindet wie ein goldnes Band
Die gleiche treue Heimatliebe.

Berlin. Dolorosa.

Die Welt (Wien), 5. Jahrg., 12. Juli 1901, Nr. 28, S. 11. Online