Wenn man auf der Fahrt von Zürich nach Chur…

Wenn man auf der Fahrt von Zürich nach Chur am Walensee vorbeihuscht, so wird kaum einem Reiseinden das große Bergdorf Amden entgehen, das auf der anderen Seite hoch über dem See von hochragender Bergterrasse herabschaut. Es ist ein stattliches, weitläufiges Dorf. Vor ein paar Jahren hat es geheißen, der Canton St. Gallen wolle da oben sein Lungensanatorium errichten; es ist jedoch nichts draus geworden. Dagegen haben nun andere Leute die Schönheiten Amdens entdeckt und man spricht seit einiger Zeit von geheimnißvollen, steinreichen Leuten, die in Amden zu „fabelhaften Preisen“ Grund und Boden kaufen und sich dort häuslich einzurichten beginnen. Man hat vor Kurzem in Amden erzählt, daß bisher auf dein Gebiete der Gemeinde für rund 400.000 Francs Liegenschaften an die „Amerikaner“ verkauft worden seien; die Preise sind nach Amdener Verhältnissen hoch; bezahlt wurde prompt und beim Handel gab’s kein Markten. So ist über Nacht schon mancher Amdener sein „Heimwesen“ zu einem Preise losgeworden, der ihm als großes Vermögen vorkam. Man reibt sich denn auch in dem armen Bergdorfe vergnügt die Hände; nur der Herr Pfarrer und der Herr Caplan sind nicht gar erbaut von der geheimnißvollen Geschichte, denn die reichen Eindringlinge gehören einer christlich-communistischen Secte an, die aus Nordamerika herübergekommen ist und in dem weltverlorenen Bergneste eine Colonie gegründet hat. Gründer und Leiter der Colonie soll ein Herr Klein sein, dessen Vorfahren in Mainz das Bürgerrecht besaßen; er selbst sei vor etwa fünfzehn Jahren aus Meran nach Nordamerika ausgewandert. Herr Klein hat schon vor zwei Jahren das Gut „Krappenhof“ [sic!] bei Amden angekauft und sich dort häuslich niedergelassen. Bald sind andere Familien und auch einzelne Personen nachgekommem und der Gemeinschaft beigetreten. Jeder legt sein Hab und Gut in die gemeinsame Cassa; die Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen, während die Unterkunft nicht kasernenmäßig eingerichtet ist. Die Leute siedeln sich nach ihrem Gutdünken in einem der angekauften Häuser an. Die „Villa Arbenz“ in Weesen wird gegenwärtig für Künstler eingerichtet. Es soll auch eine Marienkapelle in Amden gebaut werden, und wenn es die Regierung erlaubt, so wird die Colonie auch eine eigene Schule aufthun. Die Secte erwartet einen neuen Christus, der zu Ostern 1904 in Amden sein Reich aufrichten soll.

Neues Wiener Journal, 11. Jahrg., 7. November 1903, Nr. 3603, S. 6. Online